oder warum Hummeln keine Rennautos sind!
Zu unserer Haustüre führte eine Treppe mit drei Stufen hoch. Gleich hinter der Treppe grenzte der Gartenzaun an – mit einem Abstand von vielleicht zehn Zentimetern zur untersten Stufe. Und dort unter der Stufe wohnten die niedlichen, dicken, pelzigen, schwarz gelb-gestreiften Erdhummeln. Der Eingang zum Hummelreich war ein Loch in der Erde zwischen Stufe und Zaun.
Ich verbrachte gefühlte Stunden und Tage auf der untersten Stufe – in respektvollem Abstand, um die Hummeln zu beobachten, wenn sie aus ihrem Loch krabbelten, vor dem Eingang sorgsam die Flügel putzten, scheinbar den Schlaf abstriffen und sich anschickten im Senkrechtflug zwischen Zaun und Stufe aufzusteigen. Je später der Morgen, desto emsiger das Hummeltreiben. Vor dem Loch ging`s zu wie auf einem Flugplatz. Die einen starteten, die anderen landeten, die eine raus aus dem Hangar, die andere rein in den Hangar – nie kamen sie sich in der engen und steilen Einflugschneise in die Quere. Es war zu faszinierend!
Irgendwann wurde mir das beobachten zu langweilig, ich rutschte näher Richtung Hummelloch und streckte meine Finger aus. Die Hummeln sahen so flauschig aus, ich musste sie einfach anfassen – auf die Idee, dass Hummeln auch stechen können, kam ich nicht! Auf die nächste Hummel, die vorsichtig aus dem Loch kroch und sich mühsam anschickte zu starten, legte ich ganz vorsichtig den Zeigefinger. Und es machte „Bruummmm“.
Die Hummel hörte sich an, wie ein kleines Rennauto!
Hui, war das eine Freude! Jede Hummel, die losstarten wollte kriegte meinen kleinen Finger auf den Pelz und es machte jedesmal „Bruummmm“! So begeistert war ich von meiner Entdeckung, dass mir nicht auffiel, wie lange die Hummeln brauchten, um nach meiner Fingerattacke überhaupt wieder in Gang zu kommen. Vertieft in meine Vergnügung hatte ich auch nicht bemerkt, dass Mutter Mary, meine Oma, mich von der Hausecke aus beobachtete. Sie kam herüber, setzte sich zu mir auf die unterste Stufe, nahm mich auf ihren Schoß und fragte mich, was ich mit den Hummeln mache.
„Ich lasse sie brummen! Wie kleine Rennautos!“ erklärte ich ihr arglos. Ich war begeistert!
Und dann erklärte Mutter Mary mir sehr anschaulich, wie sich Hummeln fühlen, wenn man sie wie Rennautos brummen ließ: Sie ließ mich aufstehen und sagte mir, ich solle so schnell ich könne losrennen. Das tat ich. Bevor ich losflitzen konnte, legte sie mir die Hand an die Stirn und ich rannte mich wild gegen den Widerstand ihrer Hand und ihre Aufforderung „Schneller, schneller“ müde. Schließlich war ich puterrot angelaufen und japste nach Luft. Sie nahm die Hand weg und ich plumpste erschöpft zurück auf die Stufe. Sie sagte mir, ich solle aufstehen und weiterennen. Mein „Ich kann nicht mehr, ich muss erst ausruhen“ ließ Mutter Mary nicht gelten, stellte mich zurück auf die Beine und sagte: „Lauf los!“ Ich plumpste abermals zurück auf die Stufe. Dann setzte sie sich wieder zu mir und erklärte mir, dass sich so die Hummeln fühlen, wenn ich sie nach all ihren mühsamen Startvorbereitungen, daran hindere loszufliegen. Für die Hummeln sei es überlebenswichtig zu fliegen und Pollenstaub und Nektar zu sammeln, um das ganze Hummelvolk unter der Treppe zu ernähren. Mehr musste Mutter Mary nicht erklären. Das hatte gesessen!
Ich kann Euch sagen, diese Lektion habe ich gelernt. Ich habe nie wieder einen Finger auf Hummeln oder ähnlich pelzige Tiere gelegt, die schlaftrunken aus ihren Erdlöchern krabbelten. (Was mich bis heute nicht daran hindert vor Erdlöchern zu sitzen und darauf zu warten, dass etwas raus krabbelt! Aber nur um es fasziniert zu beobachten!)
Noch heute denke ich bei jeder Hummel, die ich sehe, an Mutter Mary, die Treppe und das brummende Pelzvolk und noch immer kann ich mein schlechtes Gewissen nach dieser Lektion als Kind auf meine Jetzt-Zeit- Leinwand projizieren.
Was mich diese Geschichte gelehrt hat? So einiges:
- Ich hatte eine tolle Oma!
- Jedes Lebewesen ist GROSSARTIG!
- Ich lerne durch Erfahrung!
Was bedeutet das für mich, als Yogalehrerin und –therapeutin?
Ich kann nur das an meine Schüler/innen weitergeben, was ich selbst erfahren habe. Nur durch Erfahrung entsteht bewusstes Wissen. Jeder einzelne Mensch ist großartig und anders. Das empfinde ich aus tiefstem Herzen und gehe in meinem Unterricht auf die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Einzelnen ein, versuche mich in sie hineinzuversetzen.
Die erste Hummel, die ich im Frühjahr sehe, ist mir heilig. Sie ist für mich Übermittlerin, für all das, was ich erfahren durfte. Und dafür danke ich ihr.
Der größte Dank aber gebührt Mutter Mary, meiner Oma, die mich mit solchen Aktionen ( und da gab es so einige ) den Respekt für das Große Ganze lehrte.
Bis bald, alles Liebe,
Kerstin
sehr schön und wie immer im Leben…erst später (zu spät oft) begreift man diese Dinge, dennoch tun diese auch im nachhinein gut ! Genau wie die kleine Story, mit Tränen (vor Glück) in den Augen – beste Grüße aus Essen
F
Lieber Frank,
ja, vor allem im Nachhinein ist meine Dankbarkeit immens und wie grossartig viele Dinge waren, ist mir heute bewusster denn je! Auch, wie viel Glück ich hatte, mit so tollen Menschen aufwachsen zu dürfen.
Liebe Grüße aus Hamburg,
Kerstin
Einfach wundervoll. Tolle Oma
Ja, das war sie! Davon abgesehen: Mutter Mary hatte auch Hummeln im Hintern! Mrs. 100.000 Volt!